In meiner Praxis arbeite ich vor allem mit Kindern und ihren Familien, die durch ihre eigenen Gedanken eingeschränkt werden. Ein Beispiel dafür ist Lisa (Name geändert), ein zehnjähriges Mädchen, das wegen starker sozialer Ängste in Behandlung ist. Lisa hat ständig Angst davor, etwas falsch zu machen, sich zu blamieren oder von anderen negativ bewertet zu werden. Diese Gedanken halten sie davon ab, in der Schule aufzuzeigen, mit anderen Kindern zu spielen oder ihre Meinung zu äußern. Ihr Alltag wird immer mehr von diesen Ängsten bestimmt, und sie zieht sich zunehmend zurück.
Gemeinsam mit ihrer Familie arbeite ich daran, dass Lisa und ihre Eltern verstehen, wie solche Gedanken entstehen und welche Strategien helfen können, sich davon zu lösen. Denn oft spüren auch die Eltern die Auswirkungen von Lisas Ängsten: Sie machen sich Sorgen, versuchen sie zu unterstützen, fühlen sich aber manchmal auch hilflos. Umso wichtiger ist es, gemeinsam Lösungen zu finden, die im Alltag umsetzbar sind und langfristig Wirkung zeigen.
Ein zentraler Ansatz in meiner Arbeit ist, Kindern und ihren Familien zu zeigen:
Du bist nicht deine Gedanken. Gedanken sind nichts Festes, keine unumstößlichen Wahrheiten. Sie kommen und gehen, genau wie Wolken am Himmel oder Blätter auf einem Fluss. Indem wir lernen, unsere Gedanken mit Abstand zu betrachten, können wir uns von ihnen lösen und neue Handlungsspielräume schaffen.
Die folgende Imaginationsübung namens „Der Gedankenfluss“ habe ich mit Lisa und ihren Eltern geteilt, damit sie diese zu Hause gemeinsam üben können. Sie hilft dabei, Gedanken aus einer neuen Perspektive zu sehen, sie nicht zu bewerten und sich von ihnen nicht mehr kontrollieren zu lassen.
Diese Übung könnt ihr auch mit eurem Kind ausprobieren. Sie ist einfach umzusetzen und kann helfen, wieder mehr innere Freiheit und Ruhe zu finden.

Imaginationsübung: "Der Gedankenfluss"
Einleitung
Hallo Lisa, heute machen wir eine kleine Reise in deine Fantasie. Du brauchst nichts weiter zu tun, als es dir bequem zu machen und dir alles genau so vorzustellen, wie ich es dir erzähle. Diese Übung soll dir helfen, mit deinen Gedanken besser umzugehen und zu merken, dass sie einfach kommen und gehen können – so wie Wolken am Himmel oder Blätter auf einem Fluss.
Die Geschichte
Stell dir vor, du sitzt auf einem weichen, gemütlichen Kissen direkt am Ufer eines wunderschönen, ruhigen Flusses. Die Sonne scheint warm auf dein Gesicht, und um dich herum hörst du die sanften Geräusche der Natur – das Plätschern des Wassers, das Singen der Vögel und das Rascheln der Blätter im Wind. Es fühlt sich sicher und friedlich an, hier zu sitzen.
Jetzt schau dir den Fluss ganz genau an. Das Wasser fließt ruhig dahin, immer in Bewegung. Auf dem Fluss treiben kleine Blätter. Manche Blätter sind grün, manche braun, manche leuchten vielleicht sogar in bunten Farben. Die Blätter kommen aus dem Wald oberhalb des Flusses und ziehen dann langsam an dir vorbei, bis sie außer Sicht verschwinden.
Die Gedanken als Blätter
Jetzt stell dir vor, dass jedes Blatt auf dem Fluss ein Gedanke von dir ist. Vielleicht ist da ein Gedanke wie: "Was, wenn ich etwas falsch mache?" Oder ein Gedanke wie: "Warum bin ich manchmal so anders als andere?"
Was auch immer dir in den Sinn kommt – pack diesen Gedanken auf eines der Blätter und beobachte, wie er langsam auf dem Wasser entlanggleitet. Du musst nichts tun. Du musst ihn nicht festhalten oder wegschieben. Du beobachtest ihn einfach, wie er vorbeischwimmt.
Manchmal kommt ein Gedanke, der sich groß und schwer anfühlt. Aber auch diese Gedanken können auf einem Blatt liegen und weitertreiben. Andere Gedanken sind vielleicht ganz leicht und verschwinden schnell aus deinem Blick.
Und weißt du was? Der Fluss fließt immer weiter. Gedanken kommen, Gedanken gehen. Du bist der Beobachter am Ufer. Du bist nicht der Fluss, und du bist auch nicht die Blätter. Du bist einfach du – sicher, ruhig und frei.
Gefühle auf dem Fluss
Manchmal kommen nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle wie Angst, Wut oder Traurigkeit. Auch diese Gefühle kannst du dir als Blätter vorstellen. Du kannst sie ansehen, ohne dass du sie ändern oder bekämpfen musst. Leg sie auf ein Blatt, schau zu, wie sie weiterziehen, und erinnere dich: Auch diese Gefühle sind wie Gäste – sie bleiben nicht für immer.
Du hast immer eine Wahl
Jetzt stell dir vor, dass du aufstehst und deine Füße in den warmen Sand steckst. Du merkst, dass du jederzeit entscheiden kannst, was du tun willst, auch wenn auf dem Fluss noch ein paar Gedanken oder Gefühle treiben. Du könntest tanzen, laufen, lachen oder einfach tief durchatmen. Die Gedanken und Gefühle halten dich nicht fest.
Du bist derjenige, der entscheidet, was du tun möchtest. Selbst wenn ein Blatt mit einem unangenehmen Gedanken vorbeikommt, kannst du weitergehen und die Dinge tun, die dir wichtig sind – wie ein spannendes Spiel spielen, mit Freunden sprechen oder einfach Spaß haben.
Abschluss
Wenn du bereit bist, komm langsam zurück ins Hier und Jetzt. Spür den Boden unter dir, hör die Geräusche um dich herum und öffne die Augen. Du kannst dich jederzeit an den Fluss erinnern, wenn du merkst, dass dich Gedanken oder Gefühle überwältigen. Der Fluss ist immer da, und du bist der Beobachter – ruhig und stark.
Wichtig:
Du bist nicht deine Gedanken, Lisa. Du bist so viel mehr. 💛
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